Über Stock und über Stein

Eintrag 3 |

Bei wem der letzte Blogeintrag über die Entstehung von Wandel in uns und die Selbstreflektion dazu noch nachklingt, wird vielleicht schon sehnsüchtig auf diesen neuen Beitrag gewartet haben. Ich kann den Impuls verstehen, denn wer so tief in sich hineinhorcht, hört, wie es knirscht im inneren Gebälk und spürt das Tauziehen zwischen Sein und Werden.

Ich wette auch, dass der eine oder die andere gedanklich beim Thema dieses Eintrags angekommen ist: Was hindert uns eigentlich daran, Veränderung anzugehen und unserem inneren Ringen Taten folgen zu lassen? Was können wir tun, um dann doch den ersten Schritt zu machen? Die erste Frage kann man wortreich beantworten, z. B. mit der

Top-7-Liste der ultimativen Resignation

„Ich würde ja, aber …“

PlatzTitelBitte singen auf die Melodie auf …
1… ich kann das nicht.„All By Myself“ (Eric Carmen)
2… mir fehlt dazu […]1.“Ain’t Got No” (Galt MacDermot Gerome/ Ragni James Rado)
3… das machen leider schon so viele und die haben […]1.„Alles nur geklaut“ (Die Prinzen)
4… ALLE raten mir davon ab.„With A Little Help From My Friends” (Woodstock-Version von Joe Cocker)
5… das Risiko ist zu hoch (, damit […]1 zu verlieren)„Highway To Hell“ (AC/DC)
6… wie soll ich das machen? Es ist gerade so viel los.„Lady Madonna“ (Beatles)
7… ich halte das eh nicht durch.„I’m A Loser Baby” (Beck)
Gängige Top-7-Liste der ultimativen Resignation

1 wahlweise einzusetzen: „Geld“, „Zeit“, „Energie“, „Know-how“, „ein Netzwerk“, „Mut“, „ein eigenes Zimmer“/“Haus“/“Grundstück“/“Flugzeug“/“Boot“/“Schloss“, „so ziemlich Alles“

So – jetzt haben wir alle mal herzlich gelacht. Nur, so lustig ist das gar nicht. Denn wenn wir Veränderung wollen, geht es buchstäblich um unser Leben. Erinnern wir uns an Beitrag 2: Wenn du Veränderung angehst, ist „die erste Frage, die du stellst, […] schicksalhaft“ (nach D. Cooperrider). Und mit unserem Schicksal ist nicht zu spaßen. Die Titel in der Chart-Liste, gehen vor dem Hintergrund gar nicht. Aber trotzdem rauschen sie durch unser Gehirn, verzwirbeln unsere im Ansatz produktiven Gedanken und rauben uns den Mut, loszulegen. Sicher hilft eine Prise Humor, um aus den seichteren Tiefs herauszufinden. Aber was ist mit den Zweifeln, die uns wirklich im Griff haben? Die lacht man nicht einfach weg.

Unsere heutige Protagonistin, Oyá, hat all diese Lieder gesungen und dabei gelacht. Nachdem das nicht wirklich geholfen hat, ist sie losgezogen, ist einem Monster begegnet und – sagen wir der Einfachheit halber – hat es besiegt. Sie hat mir ein Exklusivinterview über ihr Abenteuer gegeben und damit viele Antworten auf Frage 2 geliefert:

Eva:     Oyá, du hast es geschafft, du bist die ersten Schritte auf deinem Weg der Veränderung gegangen. Vielleicht holst du meine Leser:innen und mich kurz ab: Worum geht es?

Oyá:    Genau, ich wollte was verändern. Schon vor Jahren, als ich spürte, dass ich in meinem Job als Mediengestalterin nicht mehr so recht froh war, hatte ich mir die Frage gestellt, was ich gerne machen würde. Ich hatte das Glück, dass ich es im Grunde schon immer wusste: Ich nähe wahnsinnig gerne und entwerfe alle meine Kleider, die ich trage, selbst. Mir war schon eine Weile klar, dass das mehr sein sollte als ein Hobby. Als ich mich dann endlich entschieden hatte, dass ich Modedesignerin mit eigener Boutique für Slow-Fashion und Upcycling sein will, hatte ich zuerst einen totalen Höhenflug. Ich war super motiviert und hätte am liebsten alles gleichzeitig gemacht.

Eva:     Oh, oh, ich ahne schon, da kommt jetzt ein „Aber“ …

Oyá:    Richtig, ein fettes „ABER“, mehrere sogar … (Oyá macht eine nachdenkliche Pause und legt die Hand kurz an den Mund). Ich hatte plötzlich solche Zweifel. In der Zeit habe ich so viele Unkenrufe über solche Vorhaben gehört. Nicht nur aus dem direkten Umfeld (da natürlich auch), aber auch aus den Medien. Als ob auf einmal alle, die sowas vorhaben – eigenes Business, dann auch noch im kreativen und nachhaltigen Umfeld –, zum Scheitern verurteilt wären. Und die Erfolgsgeschichten, die ich gehört habe, waren fast noch erdrückender. Da haben glückliche Gründer von ihrem zwar steinigen, aber auch doch so schönen Weg erzählt und immer kam an irgendeiner Stelle raus, dass die doch irgendwas schon hatten, was mir fehlte. Viele hatten offensichtlich irgendwoher ein Grundkapital, wahrscheinlich geerbt oder so, oder sie hatten Geschäftspartnerinnen mit mehr Erfahrung. Ich war echt sauer über sowas. Als Konfuzius sagte „Der Weg ist das Ziel.“, meinte er sicher nicht „Always take the scenic route.“ Und da war sie hin, meine Motivation. An ihre Stelle traten Selbstzweifel. So überzeugt ich war, dass mich dieser Beruf glücklich machen würde, so sicher war ich mir, dass ich es nicht schaffen kann. Also habe ich erstmal nichts gemacht und fühlte mich regelrecht stecken geblieben.

Eva:     Ok, was für ein Brett. Wie bist du damit umgegangen? Was hast du gemacht, um doch dort anzukommen, wo du heute bist, nämlich in deinem eigenen Business?

Oyá:    Nun, die Geschichte, die ich jetzt erzähle, klingt unglaublich. Und ich weiß manchmal selbst nicht, ob sie wirklich so passiert ist, oder ob es nur ein Traum war. Naja, ich bin jedenfalls dem Frosch auf ewig dankbar.

Eva:     Moment, Moment, welcher Frosch?

Oyá:    Kommt gleich… Es ist folgendermaßen passiert:

            Ich war spätabends nach einem langen Arbeitstag auf dem Heimweg. Mal wieder total in Selbstmitleid versunken, wollte ich mir noch was Gutes tun. Auf der anderen Seite von dem Park, an dem ich immer vorbeigehe, war früher eine Eisdiele, die noch spät aufhat. Da wollte ich hin. Es dämmerte zwar schon, aber ich wollte nicht um den Park rumlaufen, sondern den kurzen Weg quer durch. Und natürlich habe ich mich verlaufen, es wurde immer dunkler und ich wusste nicht mehr, wo ich war. Zuerst war es noch ganz lustig, weil ich mir zu meinen Charthits der ultimativen Resignation tatsächlich eine Playlist aufs Handy geladen hatte und immer im Refrain meinen Text mitsang. Als ich aber dann doch langsam Angst bekam und gerade mal auf Google-Maps nachschauen wollte, hatte mein Handy plötzlich keinen Saft mehr. Da stand ich nun, heulend, im dunklen Park und kannte den Weg nicht.

            „Hallo, Oyá“, hörte ich plötzlich eine tiefe, rauchige Stimme von schräg unten. Ich war wie erstarrt und traute mich nur langsam hinzusehen, um festzustellen, dass da niemand war – also nicht ganz – da saß ein Frosch, ein sprechender Frosch.

Eva:     Ist nicht wahr…

Oyá:    Doch – und es wird noch besser: Nachdem wir kurz geklärt hatten, dass ich es nicht gewohnt bin, mit Fröschen zu reden und er dafür auch Verständnis äußerte, schlug er mir folgenden Deal vor: „Küss mich und ich schenke dir dein eigenes Modelabel und die Boutique gibt’s gratis dazu.“ Ich war so perplex, dass ich nur stammelnd herausbrachte: „Wie jetzt, nur so ein dicker Schmatzer oder mit Zunge?“ Und der Frosch so: „Iiiiih, was ist bei dir denn kaputt?“ Also hatten wir das geklärt.

Eva:     Du hast aber nicht wirklich…

Oyá:    Doch, was soll ich sagen… (Oyá wird etwas rot.) Ich wollte das doch so unbedingt und das war meine Chance. Also habe ich den Frosch auf meine Hand gesetzt und ihm, naja, … ein kleines Bussi gegeben. So, jetzt ist es raus.

            Und dann … … BÄAM!! Ist der Frosch plötzlich mit einem lauten Knall weg. Ich dachte erst der wäre geplatzt, aber nein, viel schlimmer. An seiner Stelle steht plötzlich ein Riesenviech mit sieben schrecklichen Köpfen, die wie riesige Münder aussahen.

Eva:     Wie eine Hydra?

Oyá:    Genau wie eine Hydra. Also ja, EINE HYDRA.

Eva:     Ok, ich spiele jetzt einfach mal mit. Was hat die Hydra gesagt?

Oyá:    „N’Abend“.



Und dann hat sie mich ausgelacht. Es war ein schreckliches Geräusch, wie wenn hundert Messer gleichzeitig geschärft werden, kalt und klirrend. Als sie mit mir sprach, haben die Köpfe nacheinander die Worte aufgegriffen, manchmal haben mehrere synchron geredet. Ich dachte ich werde irre.

„Ich bin die Hydra des Zweifels“, zischten die Köpfe. „Du bist auf einen alten Trick reingefallen. Du wolltest es dir leicht machen und bist übermütig geworden. Dafür hast du jetzt richtig Ärger am Hals.“ Sie erklärte, der Frosch sei nur eine von vielen Formen gewesen, die die Hydra annehme, um Menschen wie mich aufs Glatteis zu führen. „Und jetzt werde ich dich auffressen!“

Abbildung 1: Oyás Hydra des Zweifels (eigene Darstellung)

Sie griff sofort an. Die Köpfe schnappten nach mir und ich konnte gerade noch einen Satz nach hinten machen, um etwas Abstand zwischen uns zu bringen. Mir tropfte Blut auf den Pulli, denn sie hatte mich schon im Gesicht erwischt. Im letzten Moment, bevor der zweite Angriff kam, hatte ich meinen Laptop in der Hand und schmetterte ihn gegen einen der Köpfe. Das hat sie so erschrocken, dass sie für einen Bruchteil einer Sekunde von mir abließ. Das gab mir etwas Zeit, weiter wie irre mit dem Laptop auf den einen Kopf einzuprügeln, bis er verstummte und plötzlich im Hals der Hydra wie in einem Rollkragen verschwunden war. Als ich gerade dachte, dass ich so wieder die Oberhand hätte, machte es „Plopp!“ und der Kopf war wieder da, schüttelte sich kurz und säuselte: „Tststs, Oyá, Oyá, Oyá, dachtest du wirklich, du könntest mich so besiegen? Ich lasse dich nicht los.“ Und jetzt donnerten alle Köpfe gemeinsam: „Denn ich bin DEINE Hydra des Zweifels. Du hast mich gerufen, als du deine Träume geweckt hast. Sind sie wach, bin ich es auch. Leg sie wieder schlafen und dann gehe auch ich wieder.“

            „Aber das ist doch total unfair!“, schrie ich die Hydra an. „Und außerdem ist es unlogisch. Ich habe doch eine Herzensentscheidung getroffen. Wenn ich dem jetzt nicht nachgehe, zweifle ich doch erst recht an mir. Mir ist das so wichtig! ICH GEBE DAS NICHT AUF! Hier geht es um weit mehr als eine Kleinmädchenfantasie. Es geht um mein Glück und um meine Zukunft – MEIN LEBEN!“

            Es machte pfffffffffffffft. Wie wenn Luft aus einer aufblasbaren Matratze entweicht. Die Hydra wurde kleiner. War sie vorher noch dreimal so groß wie ich, war sie plötzlich auf meine Größe geschrumpft. Die Köpfe waren auf meiner Augenhöhe und wirkten weit weniger bedrohlich und fast schon etwas traurig.

            Ich sagte mit fester Stimme: „Ok, jetzt gehe ich mein Eis essen, wenn es dir nichts ausmacht, und danach gründe ich mein Label und eröffne meine Boutique.“ Als ich versuchte an der Hydra vorbeizugehen und sie mit dem Ellbogen etwas beiseiteschob, rangelte sie kurz mit mir und versperrte mir wieder den Weg. Die Köpfe wurden wieder munter. „So einfach geht das nicht, Oyá. Du hast uns jetzt zwar etwas eingenordet, aber wir haften dir an, ob du willst oder nicht.“

            Und da fiel mir etwas auf: Die Köpfe der Hydra sagten „uns“ – Mehrzahl. Das heißt, es handelte sich offenbar nicht um ein riesiges Monster, sondern um einen Zusammenschluss von einzelnen. Noch eine Sache fiel mir auf: Gewalt hatte mich nicht weitergebracht, aber Reden. Offenbar wurde die Hydra dadurch schwächer. Wenn ich damit recht hatte, müsste es doch möglich sein, mit den einzelnen Köpfen zu kommunizieren und so einen nach dem anderen auszuschalten.

Dieser Strategie folgend, fixierte ich einen der Köpfe und forderte ihn heraus: „Du da, wer bist du eigentlich? Was willst du von mir?“ Die anderen Köpfe versuchten gleich wieder mit einzusteigen und redeten wild durcheinander: „Was? Wir sind die Hydra des Zweifels. Sagte ich doch, also wir, also … bitte?“ Offenbar hatte ich sie kalt erwischt, also machte ich weiter mit dem ausgewählten Kopf, bis er endlich antwortete: „Ich bin ganz harmlos, ich bin deine Bescheidenheit.“ Ich sah, dass der Kopf die Mundwinkel leicht einsaugte, als ob er ein Lachen unterdrückte. „Mmh“, sagte ich, „meine Bescheidenheit hatte ich mir irgendwie netter vorgestellt. Wieso machst du denn hier mit?“ „Ich halte dich auf dem Boden der Tatsachen, damit du nicht abhebst.“, schnurrte der Kopf. „Momentmal, das fühlte sich eben eher an, als ob du mich klein machen wolltest. Was hast du denn davon, so mit mir umzugehen?“

Abbildung 2: Der Kopf ahnt, dass Oyá ihm auf die Schliche gekommen ist. (eigene Darstellung)

Der Kopf wurde rot und versuchte meinem Blick auszuweichen. „Hallo! Ich rede mit dir!“, pampte ich ihn an. Dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen und ich redete ganz ruhig weiter: „Du bist nicht meine Bescheidenheit. Die würde sich mir nicht so brutal in den Weg stellen. Du hältst mich klein und lässt mich glauben, ich sei unzureichend. Das kenne ich von mir und ich habe über die Jahre gelernt, damit umzugehen. Der erste Schritt ist, mich dir zu stellen und dich beim Namen zu nennen: Du bist mein Minderwertigkeitsgefühl.“

Der Kopf war plötzlich wie erstarrt und ließ die Mundwinkel hängen. Die anderen redeten aufgebracht durcheinander: „Oh nein, sie hat seinen Namen herausgefunden und laut gesagt. Sie wird mit uns fertig, seid auf der Hut!“ Der Kopf war verstummt und hing traurig an seinem langen Hals.

Jetzt war ich richtig in Fahrt. Also, next: „Und du? Packst du gleich aus oder machen wir Ratespielchen?“ „Wie, wer?“ fragte der von mir nun fokussierte Kopf hektisch und tat, als ob noch jemand hinter ihm stehe, den ich wohl meinte. „Du weißt ganz genau, dass ich DICH meine“, sagte ich laut und tippte ihn mit dem Finger an. Der Kopf fing an laut und schwer zu atmen. „Ich – bin – dein – Vater,“ keuchte er und kicherte dann vor sich hin. „Bullshit!“, stieß ich hervor. „Doch, mein Mädchen“, sagte der Kopf mit der Stimme meines Vaters. „Ich will nur dein Bestes, damit du nicht arm wirst. Geh‘ keine Risiken ein, damit du immer gut abgesichert bist.“ Mir rutschte das Herz in die Hose. „Aber Papa, …“, stammelte ich und schaute auf den Boden. Aber nein, das war doch gar nicht er. Die Sätze könnten von meinem Vater sein, er hat sie so oder so ähnlich auch sicher mal gesagt, aber er meinte doch nicht, dass ich mich nicht verändern soll. Nie würde er so auf mich losgehen, nie würde er mir ausreden wollen, etwas zu tun, was mir so wichtig ist. Ich erinnerte mich daran, wie er reagierte als ich ihm nach der Schule erzählte, dass ich in die Stadt ziehen will. Er fragte genau nach, was mich dahinziehe und wie ich mir das Leben dort vorstelle. Ich habe mich von der Fragerei angegriffen gefühlt und ihm meine Antworten wie eine Ohrfeige ins Gesicht geschleudert. Er hörte sich meine Argumente genau an. Dann legte er seine Hand auf meine und sagte leise. „Ok, Oyá, du hast dir das gut überlegt. Das musste ich nur wissen, bevor ich dich gehen lassen kann. Ich unterstütze dich gerne, wenn es ist, was du willst.“ Nun wusste ich, was zu tun war und sprach zu dem Kopf, der sich mittlerweile kugelte vor Lachen: „Auch wenn du nicht mein Vater bist, will ich dir versichern, dass ich mir über die Risiken, die ich eingehe, im Klaren bin. Und ich arbeite daran, Wege zu finden, sie zu minimieren.“ „Oh“, hauchte der Kopf leise, „dann bist du ja gar nicht so unvorbereitet. Jetzt komme ich mir total blöd vor, dass ich mich so aufgeblasen habe“, und ließ sich hängen.



So ähnlich war es mit dem nächsten Kopf, den ich mir rausgriff. Er behauptete erst „ALLE“ zu sein, die mir sagten, es lohne sich nicht, meinen Weg zu gehen. Man könne davon nicht leben und würde im schlimmsten Fall alles verlieren. Es sei auch sehr kompliziert und mühsam. Dieser war besonders hartnäckig, weil er dann noch sagte er sei mein „gesunder Menschenverstand“. Der Kopf führte zahlreiche Studien und Statistiken ins Feld und Dinge, die er „nicht nur im Fernsehen gesehen, sondern auch in der Zeitung gelesen“ habe.

Abbildung 3: Der ALLE-Kopf ist ein ganz schöner Aufschneider, findet Oyá. (eigene Darstellung)

Wir haben lange diskutiert und er ließ erst nach, als ich ihm versprach, mich noch besser zu informieren und ein Gründerinnenseminar zu besuchen. Er versuchte dann noch einmal halbherzig mir den Mut zu nehmen, indem er auf den „schon vollkommen überlaufenen Mode-Markt“ hinwies und sagte, ich könne das nicht schaffen. Ich fixierte ihn daraufhin lange, legte den Kopf zur Seite, kniff die Augen zusammen, schob das Kinn etwas nach vorne und flüsterte: „Watch me!“. Der Minderwertigkeits-Kopf stupste ihn daraufhin noch kurz an und sagte: „Komm, Keule, lass gut sein, sie hat gewonnen.“

So ging es mit einem Kopf nach dem anderen. Nach vier hängenden Köpfen konnte die Hydra sich nicht mehr auf den Beinen halten. Sie war auch schon wieder ein ganzes Stück kleiner geworden und reichte mir nur noch bis zum Kinn. Ich setzte mich zu ihr auf die Erde und sie legte ihre Köpfe auf mir ab. Der Minderwertigkeitskomplex lag neben dem ALLE-Kopf auf meinem Schoß und ließ sich tätscheln, andere hatten sich auf meinen Schultern abgelegt. Ich saß aufrecht und fragte meine müden Zweifel: „So Freunde, was machen wir jetzt?“ Als keine Antwort kam, redete ich weiter: „Ich gehe davon aus, dass ihr nicht verschwinden werdet. Wir haben auch schon geklärt, dass ich euch nicht töten kann, zumal das in eurem jetzigen Zustand auch ein unfairer Kampf wäre. Also schlage ich euch einen Deal vor: Ich kümmere mich um die Dinge, die zu tun sind. Dazu gehört, dass ich mich weiter informiere, wie ich möglichst klug mein Geschäft aufbaue, mich mit den Risiken auseinandersetze und versuche, sie zu minimieren. Ich lasse mich beraten und bilde mich weiter, wo ich es brauche. Ich rede mit Leuten in meinem Umfeld, die mich mit ihrem Know-how, Kontakten oder mental unterstützen können – als erstes morgen mit meinem Vater. Das heißt im Klartext: Ich setze mich mit euch auseinander. Dafür seid ihr zahm. Ihr nutzt nicht meine schwachen Momente aus, ihr kommt nicht nachts und turnt in meinem Kopf herum. Ihr dürft mich anstupsen, wenn ihr glaubt, dass es notwendig ist. Ihr habt hoffentlich gelernt, dass ich mit euch umzugehen weiß. Ihr habt jetzt nicht mehr die Macht, mich von meinem Vorhaben abzubringen. Ich spürte ein siebenfaches müdes Nicken. Die Hydra war jetzt so klein, dass sie in meine Jackentasche passte. Dort kuschelte sie sich ein und durfte etwas später den letzten Rest von meinem Eis essen. (Oyá lächelt still.)

Eva:     Wow, was für ein Abenteuer. Ich bewundere deine Stärke und Klugheit, mit der du der Hydra – deinen Zweifeln – entgegengetreten bist. Was mich besonders beeindruckt hat, war das versöhnliche Ende. Wie war es danach, haben sich die Köpfe an den Deal gehalten?

Oyá:    Weitestgehend. Die sind dummerweise wie Hamster: Nachtaktiv und rennen gerne im Kreis. Das hat mich häufig wachgehalten und um den Schlaf gebracht. Was geholfen hat, war mich immer wieder darauf zu besinnen, dass ich mit jedem Einzelnen von ihnen umgehen kann. Aber so eine Situation wie an dem Abend meiner Erzählung hatten wir nie wieder.

Eva:     Wie erklärst du dir, dass die Zweifel mit deinen Träumen geweckt wurden? Du sagtest ja eingangs, dass du in der Zeit, als du anfingst, dein Vorhaben zu konkretisieren, so viel von außen über Erfolg und Scheitern solcher Dinge wahrgenommen hast?

Oyá:    Genau kann ich es nicht sagen, ich glaube aber, dass Phasen des Umbruchs auch immer die Zeit der Geschichtenerzähler sind – und da hört man eben auch Unkenrufe. Einiges davon kommt aus uns selbst, manches nehmen wir von außen auf. Aber mal ehrlich – es sind immer wir selbst, die entscheiden, was wir aus den Storys heraushören, was wir davon glauben und worauf wir wie reagieren.

Eva:     Wie hast du geschafft, für dich zu unterscheiden, welche Erzählung von innen und welche von außen kommt? Wie bist du mit Geschichten, die dir Angst gemacht haben, umgegangen?

Oyá:    Indem ich genau in mich hineingehört habe und mir immer wieder die Frage gestellt habe, wer gerade spricht. Bin ich das? Sind es andere? Welcher Zweck wird damit verfolgt? Welchen Nutzen hat das Gesagte für den Erzähler oder die Erzählerin? Welcher Nutzen steckt darin für mich? Was davon kann mich in meinem Vorhaben unterstützen? Das hat mir auch später in Gesprächen mit Menschen aus meinem Umfeld geholfen, stabil zu bleiben, wenn sie mein Vorhaben in Frage gestellt haben.

Ein Beispiel: Meine große Schwester und ich verstehen uns super, sind aber in Vielem sehr unterschiedlich. Sie legt hohen Wert auf finanzielle Absicherung und einen sicheren Arbeitsplatz. Ihre Arbeit macht ihr umso mehr Spaß, je weniger Sorgen sie sich um ihre Zukunft machen muss. Bei ihr sind direkt alle Alarmglocken angegangen, als ich ihr von meinem Plan erzählt habe, und sie hat mir richtig Angst eingejagt. Nach meiner fantastischen Begegnung im Park konnten wir darüber ganz anders sprechen. Dabei wurde klar, dass sie eine Vorstellung über Unternehmensgründungen im Kopf hatte, die rein aus dem gespeist war, was sie aus ihrer sehr entfernten Position wahrnahm. Ihrer Auffassung nach gab es nur zwei Extreme: krasse Erfolgsgeschichten von heute riesigen Unternehmen oder bitteres Scheitern. Das deckte sich nicht mit meiner Vorstellung. Ich hatte ein ganz anderes Bild im Kopf, das sehr von meinem Bedürfnis nach Unabhängigkeit genährt war.

            Mir wurde auch klar, dass man sein Umfeld mitunter regelrecht vor den Kopf stößt, wenn man sich aus deren Sicht ganz plötzlich neu erfinden will. Ich hatte bei meiner Schwester genau dieses Gefühl, sie total überfordert zu haben. Sie hatte ja nicht die ganze Zeit schon meine Überlegungen mitbekommen und wusste nicht, wie weit ich schon mit den Vorbereitungen war. Deshalb hat sie reflexartig genauso reagiert, wie sie es als die Große immer schon tat, wenn sie mich vor einer Dummheit schützen wollte: indem sie mir frei heraus sagte, dass ich einen Fehler mache.

Eva:     Mir fällt dazu ein wie Philipp Blom in „Das große Welttheater“, anhand der kleinen Eiszeit erklärt, „wie Menschen aus den Geschichten der Vergangenheit heraus auf eine veränderte Gegenwart reagieren, weil sie noch keine Bilder im Kopf haben für die neue Realität, keine Landkarten für dieses fremde Territorium.“ Ich finde, man kann diese Erkenntnis auch auf individuelle Veränderungen übersetzen: Sie fordern nicht nur diejenigen heraus, die sie durchlaufen, sondern auch deren Umfeld. Heißt, wer aus Unkenrufern Unterstützer machen will, sollte ihnen ermöglichen, die neue Narrative zu verstehen.

Oyá:    Genauso. Mir ist dabei aber eines ganz wichtig zu sagen: Es gibt manchmal auch handfesten Gegenwind, der von außen kommt, Hürden, die nichts mit der Hydra des Zweifels zu tun haben. Es kann zum Beispiel sein, dass man zur Verwirklichung eines Vorhabens tatsächlich etwas braucht – bestimmte Skills, materielle Werte oder ähnliches – was man gerade nicht hat. Sowas kann man nicht wegdenken, sondern hier muss man prüfen, welche Möglichkeiten man hat, die Hürden zu überwinden und mit Risiken umzugehen. Ich glaube aber, dass man solche Umstände umso besser meistert, je sicherer man sich seiner selbst ist und je mehr Unterstützung man aus dem eigenen Umfeld bekommt. Dazu ist es wichtig, mit der Hydra umzugehen, seine Zweifel zu kennen und im Griff zu haben.

Eva:     Weise Worte, Oyá. Für mich klingt das auch, als ob unser Sein, durch das Werden – den Wandel, den wir stetig durchlaufen – reicher wird. Deine Geschichte zeigt ja, wie du in dieser Zeit der Veränderung über dich selbst hinausgewachsen bist. Die Hydra sagte, deine Träume hätten sie geweckt. Und dadurch ist letztendlich auch deine Stärke zu Tage getreten. (Oyá nickt mir zu. Es folgt eine kurze Stille.)

Kannst du uns zum Abschluss noch aus deiner Wahrnehmung die wichtigsten Schritte beim Überwinden der Hindernisse zusammenfassen?

Oyá:    Gerne, ich sehe es folgendermaßen:

  1. Erkenne, dass Hindernisse da sind.
  2. Mache dir bewusst, was wichtig ist – in Bezug auf die Veränderung und in Bezug auf die Hindernisse.
  3. Setze dich mit deinen Zweifeln auseinander, z. B. indem du sie benennst und prüfst, wie dein Umgang damit dir in deinem Vorhaben nützen kann.
  4. Gehe mit äußeren Hindernissen um, indem du Lösungen dafür findest und Unterstützung annimmst.
  5. Bleibe in Bewegung, sei flexibel – in Bezug auf deine Zielvorstellungen und deine Wege zum Ziel.

Eva:     Ich danke dir dafür und für deine Geschichte. Wir haben ja noch eine gemeinsame Botschaft für die Leserinnen und Leser des Morphogenetischen Blogs. Also eins, zwei, drei:

Abbildung 4: Hindernisse, die wie ein Berg zum Erklimmen erscheinen (eigene Aufnahme)

Wenn dir die Hindernisse wie ein Berg erscheinen, besteige ihn und schaue von oben, was du siehst.

Oyá und eva

Der Eintrag war durch das spannende Interview mit Oyá etwas länger als bisher üblich. Ich finde die Geschichte ist so reich an Bildern und Erkenntnissen, dass ich sie hier so stehen lasse – aber natürlich nicht, ohne Ausblick auf den nächsten Eintrag. Darin steht die Frage im Mittelpunkt „Wie geht Veränderung?“.

Und hier noch der heutige Impuls zur Selbstreflektion bis zum nächsten Mal:

Reflektion zu den Hindernissen meiner Veränderung:
Abbildung 5: Reflektionsfragen Eintrag 3
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